Opioidentzug

Ein Opioidentzug (auch: Entziehung; Entgiftung: engl. withdrawal; detoxification) ist das abrupte oder schleichende Absetzen von Opioiden, der als kalter Entzug alleine bzw. ohne ärztlichen Beistand oder mit ärztlicher Hilfe im ambulanten oder stationären Bereich erfolgt.

Eine Entgiftung kann als erfolgreich bezeichnet werden, wenn die belastenden Entzugssymptome vollständig oder großteils abgeklungen sind und Opioide im Urin nicht mehr nachweisbar sind. Ob oder wann es zu einem Rückfall kommt, ist anhand dieser Definition zweitrangig. Der alleinige Opioidentzug ohne weitergehende Maßnahmen ist keine Therapie einer Abhängigkeit von Opioiden.

Der Rückfall nach einem stationären Entzug ist (durch die jetzt erniedrigte Opioidtoleranz) mit einem erhöhten Risiko für eine tödliche Überdosierung verbunden. Dem Entzug soll deshalb zur Stabilisierung eine längere Phase der psychosozialen Betreuung folgen, um einen Rückfall zu vermeiden oder zu verzögern bzw. um die unerwünschten Folgen eines neuerlichen Substanzgebrauchs im Sinne der Schadensminimierung (harm minimization) zu begrenzen. So wird die Tatsache, dass Methadon-substituierte Abhängige gegenüber mit Dihydrocodein (bzw. Codein) Substituierten und Heroinabhängigen ohne Substitution eine höhere Rate an erfolgreichen Entzügen aufwiesen, mit der vorangegangenen strukturierten Begleitung im Methadonprogramm als unabhängigem Erfolgsparameter erklärt.

Wirksamkeit

Der wissenschaftlichen Literatur betreffend der Opioidentgiftung wird von Kritikern eine Alice im Wunderland-Qualität zugeschrieben: Alles funktioniert - und doch nicht; denn unabhängig von der angewandten Methode kommt es bei den meisten Patienten zu Rückfällen. Eine Cochrane-Studie des Jahres 2003 konnte überhaupt keine Studien von befriedigender Qualität finden, die Aussagen ermöglicht hätte, ob Entgiftungen im stationären oder ambulanten Bereich bessere Erfolge aufwiesen oder welcher Zugang kosteneffektiver sei .

So kann für eine Entgiftung im stationären Bereich wohl ein besserer Kurzzeiterfolg (bezogen auf Substanzfreiheit bei Entlassung) nachgewiesen werden, nicht aber auf längere Zeit (Erfolg bezogen auf langfristige Abstinenz oder Verbleib in einer Therapie). "Viele Länder etablieren Angebote die auf dem Glauben zu basieren scheinen, dass eine Entgiftung zu einer nachhaltigen Veränderung des Substanzkonsums führen könne, obwohl es Hinweise für das Gegenteil gibt." Und weiter: "Nachdem ein Opioidentzug selten lebensbedrohlich ist, handelt es sich bei der Entgiftung um eine symptomlindernde Betreuung für jene, die abstinent werden möchten oder dazu gezwungen werden (z.B. als Folge einer Inhaftierung oder einer Aufnahme in ein Krankenhaus)." Als solch einen erzwungenen Entzug kann man auch die Entgiftung im Zusammenhang mit dem Angebot einer Therapie statt Strafe sehen, wenngleich dieses Angebot in verschiedenen Fällen tatsächlich dazu führen kann, die Motivation für einen Neustart ins Leben entscheidend zu fördern.

Der Entzug in einer spezialisierten Entziehungsstation ist dem in einer allgemeinen psychiatrischen Abteilung allerdings vorzuziehen, da die (wichtige) Akzeptanz durch den Patienten selbst und die Rate erfolgreicher Abschlüsse höher sind.

In die prospektive Australian Treatment Outcome Study (ATOS) wurden 745 Patienten vor Therapiebeginn (Substitutionprogramm mit Methadon oder Buprenorphin, stationäre Entwöhnung/Rehabilitation oder Entgiftung) mit 80 Heroinabhängigen ohne Therapiewunsch verglichen, wobei 80 Prozent nach einem Jahr neuerlich befragt werden konnten. Die Mehrheit der Behandelten war zu diesem Zeitpunkt heroinfrei (65%, 63% bzw. 52%), verglichen mit immerhin 25% der Patienten ohne Therapiewunsch. Zusätzlich kam es zu einer beeindruckenden Abnahme der Kriminalität und weniger drogenassoziierten gesundheitlichen Problemen. Allerdings hatten von den 171 Patienten mit Entgiftung in den zwölf Monaten zwischen erstem und letztem Interview 92% Heroin konsumiert und 15% zumindest eine Überdosis gehabt, was im Schnitt zu 3,1 weiteren Behandlungsepisoden mit einer Gesamtbehandlungsdauer von 74 Tagen führte.

Indikationen

Gründe, einen kontrollierten Entzug durchzuführen sind, unterschiedliche Verhaltensmuster eines anhaltenden problematischen Heroinkonsums zu unterbrechen, die Entzugssymptome zu lindern, die schädlichen Folgen eines (unkontrollierten) Entzugs zu verhindern und Rahmenbedingungen für die Behandlung nach einem Entzug zu schaffen.

Laut Seivewright handelt es sich dabei um einen konzentrierten Behandlungsansatz, der Motivation und Organisation von Seiten sowohl des Patienten als auch des Behandlungsteams erfordert. Die Indikation zum Entzug muss von im Großen und Ganzen objektiven Kriterien abhängen und nicht davon, ob der Patient die "richtigen Dinge" sagt. Objektive Kriterien sind eine kurze Drogenanamnese von nicht mehr als 18 Monaten, ein niedriger Opioidkonsum von im Idealfall weniger als einem Gramm Heroin (bei einem Reinheitsgrad von 20%), kein i.v.-Konsum, kein signifikanter Beikonsum, eine gute Motivation, keine bestehenden Persönlichkeitsstörungen und ein stützendes soziales Umfeld. Personen mit i.v.-Konsum sollten zunächst in einem "Substitutionsprogramm zum Entzug" stabilisiert werden.

Methoden

Neben dem kalten Entzug in Eigenregie des Patienten gibt es verschiedene ?qualifizierte? Methoden der Entgiftung:

  • den medikamentenfreien Entzug (ebenfalls als ?kalter Entzug? bezeichnet),
  • die medikamentengestützte Entgiftung,
  • die opioidgestützte Entgiftung (?warmer Entzug?),
  • die forcierte Entgiftung (unter starker Sedierung bzw. unter Narkose).

Die Anwendung von Hypnose in einer schweizerischen Studie brachte keinen zusätzlichen Erfolg, wobei die Autoren selbst auf mehrere methodologische Einschränkungen verweisen. Ebenso wenig erleichtert eine Ohrakupunktur (Auriculotherapie) im Besonderen oder eine Akupunktur im Allgemeinen den Entzug.

Medikamentengestützte Entgiftung

Als symptomatische Behandlung wird ein Benzodiazepin wie Diazepam gegen Angst, Unruhe und Substanzverlangen, ein Mittel zur Schlafinduktion wie Zopiclon oder Zolpidem, ein an der glatten Muskulatur krampflösendes Mittel (in der Regel Butylscopolaminbromid) gegen Bauchkrämpfe, und Loperamid gegen Diarrhoe für eine definierte Zeit in definierten Mengen eingesetzt, wobei die Wirkweisen der einzelnen Medikamente und die Vorgehensweise mit dem Patienten besprochen werden sollen.

Alpha-2 adrenerge Agonisten mildern die Beschwerden bei Opioidentzug zusätzlich, wobei Lofexidin eine geringere bludrucksenkende Wirkung als Clonidin aufweist. Clonidin und Lofexidin wirken auf das noradrenerge System und einige Entzugssymptome werden durch dessen Überaktivierung verursacht. Im besonderen sind dies eine rinnende Nase und rinnende Augen, Schwitzen, Schüttelfrost und Gänsehaut sowie Durchfall.

Opioidgestützte Entgiftung

In den USA und Großbritannien wird vor allem Methadon zum Opioidentzug eingesetzt. Bei einer 21-tägigen stationären Entgiftung mit Methadon kommt es zu einem prolongierten Entzugssyndrom, das unabhängig von der eingenommenen Dosis erst circa sechs Wochen nach Beginn der Entgiftung abgeklungen ist. Eine zehntägige stationäre Entgiftung zeigt ähnliche Ergebnisse. Patienten mit vermehrten Erwartungsängsten und Neurotisierung zu Behandlungsbeginn weisen schwerwiegendere, Patienten mit guter Aufklärung über den zu erwartenden Verlauf mildere Entzugssymptome auf. Ein Entzug mit Buprenorphin dürfte mildere Entzugssymptome mit sich führen und ist v.a. angezeigt, wenn in der Folge Naloxon zur Verhinderung eines Rückfalls verordnet wird. Bei Patienten mit einer kurzen Vorgeschichte und niedrigerem Heroinkonsum kann Dihydrocodein zum Einsatz kommen.

Beendigung eines Substitutionsprogramms

Vincent P. Dole, als einer der Begründer des methadongestützten Substitutionsprogrammes, ging soweit zu behaupten, dass jeder Entzug von Methadon (bei Langzeitabghängigen im Substitutionsprogramm) ein Experiment mit dem Leben des Patienten sei und meinte damit, dass ein Substitutionsprogramm so lange fortgesetzt werden solle, wie es der Patient wünsche. Eine aufgezwungene sofortige Beendigung einer Substitutionsbehandlung (aus unterschiedlichstens Gründen) entspricht einem "kalten" Entzug; dieser "ist körperlich und psychisch sehr belastend, birgt hohe Risiken und Gefährdungen in sich und ist obsolet, da die Rückfallgefahr und aufgrund einer erniedrigten Opioidtoleranz die lebensbedrohende Überdosierungsgefahr sehr hoch ist." . Da obsolet, kann diese Vorgehensweise auch als Behandlungsfehler betrachtet werden. Somit soll die Beendigung der Behandlung schrittweise und im Einvernehmen mit dem Patienten erfolgen.

Geschichte

Die Frage, wie und wie schnell Entzüge von Opioiden, damals noch von Morphin, durchgeführt werden sollten, wurde schon im 19. Jahrhundert ähnlich widersprüchlich diskutiert.

Nach Scheffczyk (zitiert in der Dissertation von Steinat) wurde die plötzliche Entziehung von Levinstein 1875 eingeführt, die allmähliche Entziehung von Burkart seit 1877 vertreten, die sog. schnelle Entziehung von Albrecht Erlenmeyer in seiner Monographie von 1887 erläutert. Erlenmeyer bezeichnet die allmähliche Abgewöhnung als die älteste der verschiedenen Entziehungsmethoden, die darin besteht, dass "die zuzuführende Morphiumdosis täglich um ein geringes Theil vermindert wird. Diese Verminderung pflegt sich zu richten nach den Abstinenz-Erscheingen, die der Kranke darbietet. Je unangenehmer und stärker ausgeprägt diese sind, desto kleiner ist die Verringerung und desto länger zieht sich die ganze Cur hin. Der Kranke wird dabei nicht überwacht, kann vielmehr sein äußeres Leben nach Belieben einrichten." Erlenmeyer zögert "keinen Augenblick mit dem Eingeständnis, dass ein großer Theil" seiner morphiumsüchtigen Kranken, ihn unter dieser Behandlung hintergangen habe. Daneben erwähnt er aber auch als weiteren erheblichen Nachteil die zeitliche Verlängerung der Abstinenzerscheinungen: Gerade "durch die lange Dauer wird der Kranke in traurigster Weise maltraitirt, werden seine Kräfte erheblich consumirt." (S. 116)

Laut Erlenmeyer kann die plötzliche Entziehung nach Levinstein in vier bis sechs Tagen durchgeführt werden, wobei eine gewisse Bildung des Personals unbedingt "erforderlich sei, weil solche den aufgeregten Kranken einen bedeutsamen Rückhalt und eine große Unterstützung gewähre und sie davor hüte, sich in maassloser Weise gehen zu lassen."

Erlenmeyer selbst ändert diese Entziehungsmethode dahingehend ab, als er sie individualisiert und das Ausmaß und die Dauer des Morphiumkonsums, die Anzahl der vorangegangenen Entziehungskuren und den Kräftezustand des Patienten in seine Überlegungen mit einbezieht. In der Regel entzieht er zuerst die Hälfte der bislang zugeführten Dosis sofort und wiederholt diese Verminderung um die Hälfte noch ein oder zweimal während der Kur. Die erste Halbierung der Dosis werde deshalb meist gut ausgehalten, weil die "Arbeitsdosis", die die meisten Morphinisten benötigen, um arbeitsfähig zu sein, von diesen oft überschritten werde, was er als "Luxusdosis" bezeichnet. Mit dieser Methode ohne starre Regeln entzieht er in sechs bis zwölf Tagen. Damit würden die ausgeprägteren Symptome im Vergleich zum allmählichen Entzug durch die wesentlich kürzere Zeitdauer mehr als ausgeglichen und werde die Behandlung von den Patienten entsprechend geschätzt.

Im Sanatorium Bellevue wurden Morphinisten Ende des 19. Jahrhunderts teils mit Kokain im Sinne einer damals noch medikamentengestützen Entgiftung, teils ausschleichend mit Morphium selbst entzogen.

Ernst Speer, der sich entschieden gegen den (durch den ungeheuerlichen Schock) "erzieherisch außerordentlich wirksamen" kalten Entzug auf einer geschlossenen Abteilung wandte und diesen als unnötig und grausam bezeichnete, setzte 1919 im Auftrag seines damaligen Chefs Prof. Hans Berger den Entzug im Dämmerschlaf mit Luminal und Scopolamin auf einer offenen Abteilung ein. Diesem Entzug hatte sich allerdings eine Psychotherapie anzuschließen. Speer blieb bei dieser Methode bis 1936 und beanspruchte für sich eine Erfolgsquote von hundert Prozent - Erfolg auch hier wieder: abgeschlossene stationäre Entgiftung. Dass ein alleiniger Entzug sinnlos war, erkannte aber auch Speer. Zu seinem Entzugsprogramm gehörte somit die psychotherapeutische Nachbehandlung zur Sicherstellung des Erfolgs, auf die großer Wert gelegt wurde. Erfolgversprechend war diese Behandlung allerdings nur bei Neurotikern. Die ?Haltlosen? und somit Entarteten hatten keine Aussicht auf Heilung und wurden als ?Unerziehbare? gesehen. 1949 bezeichnete Speer die allmähliche Entziehung früherer Zeiten als einen Kunstfehler und groben Unfug. 1961 meinte er allerdings: Es gibt "keine wirklichen Heilungen von der Sucht. Das, was gelegentlich so aussieht, hat in der Regel keinen Dauerbestand."


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