Magersucht-Blogs sind Flucht aus Stigma

Blogs von Magersüchtigen sind heftig umstritten. Die sogenannten "Pro-Ana"-Seiten werden von Medien häufig beschuldigt, Anorexie als Lebensstil darzustellen und durch Abnehm-Tipps weiter zu verschärfen. Ein differenziertes Bild mit auch positiven Facetten zeichnen US-Forscher in der Zeitschrift "Health Communication": Social Media sind für Magersüchtige Zufluchtsorte, bieten soziale Unterstützung und Schutz vor Stigma, zudem sehen die Forscher in den Blogs sogar potenziell wertvolle Aspekte für die Therapie.

Selbstwert und Integration

"In Deutschland gibt es einige hundert Pro-Ana-Blogs. Die Zahl schwankt sehr, da die Seiten immer wieder vom Jugendschutz geschlossen werden", berichtet Christiane Eichenberg im Interview. Die Kölner Psychologin hat 2011 die Betreiberinnen deutscher Pro-Ana-Seiten untersucht. "Alle haben hohe psychische Belastung, die meisten bereits über viele Jahre eine ausdifferenzierte Essstörung. Die Blogs steigern das Selbstwertgefühl und fördern die soziale Integration, erhalten jedoch oft die Magersucht. Die Motive für die Teilnahme sind äußerst unterschiedlich", so die Expertin.

Aktuelle Daten haben nun Daphna Yeshua-Katz und Nicole Martins von der Indiana University erhoben. Sie kontaktierten 300 Blogger, von denen sich 33 Frauen zwischen 15 und 33 Jahren aus sieben Ländern für ein Interview meldeten. Die Liedertexte, Musik und Fotos extremer Magersucht verstören Außenstehende, sind für die Verfasser jedoch eine Suche nach Hilfe, Empathie und Verständnis - Dinge, die ihr Umfeld sonst nicht liefert. "Die meisten beginnen den Blog, da sie Anschluss suchen, jede Zweite nannte auch Selbstausdruck und Umgang mit dem Stigma als Motiv", berichtet Yeshua-Katz.

Gleichgesinnte verstehen besser

Die Frauen ernten in ihren Blogs Applaus von ihren Kontakten für "Erfolge" im Gewichtsverlust, Trost beim "Scheitern" in Falle von Gewichtszunahme. "Die Unterstützung wird als bedingungslos und als weitaus stärker als jene der Offline-Beziehungen erlebt. Manche treffen sich mit ihren Blog-Kontakten auch persönlich", so die Forscherin. Allerdings gibt es ebenso positive Rückmeldungen, wenn sich Betroffene dazu entschließen, ihr selbstschädigendes Verhalten zu beenden oder eine Therapie zu starten.

Pro-Ana-Seiten können für die Therapie sogar wertvoll sein, sagen die Studienautoren, bessert doch Studien zufolge schon die Entscheidung zur Hilfesuche die Chance auf spätere Therapietreue und Heilung. Bloggen könne "das Leben verlängern und mental auf Genesung vorbereiten". Manche der Befragten gaben an, sie hätten erst durch das Bloggen gelernt, über die Krankheit zu sprechen. Positiv vermerken die Forscher, dass das Bloggen die Stimmung bessert. Allerdings werden die Webseiten geheim geführt, womit das Verstecken zusätzlichen Stress bereitet, zudem sind gesundheitliche Folgen der Teilnahme noch nicht ausreichend geklärt.

Lebensstil-Sichtweise selten

Medialen Wirbel um die Blogs gab es in der Vergangenheit auch aufgrund von Sorgen bezüglich der Wirkung der Blogs auf nicht-magersüchtige Leser. Die Konfrontation mit Blogs alleine hat noch keine positive oder negative Folgen, zeigen Forscher vom Universitätsklinikum Heidelberg aktuell in einem Experiment. "Allerdings können Pro-Ana-Blogs Menschen, die ohnehin nahe der Essstörung sind, in ihrem Verhalten bestärken", sagt Hans Kordy, Mitautor der deutschen Studie und Leiter der Forschungsstelle für Psychotherapie.

Als "Lebensstil" bezeichneten die Anorexie nur drei der 33 Befragten der US-Studie, viel häufiger war die Einordnung als "psychische Krankheit" oder "Bewältigungsstrategie". Fünf nannten die Weitergabe von Abnehm-Tipps als Beweggrund, fast alle warnen ihre Leser eingangs über die Inhalte und ignorieren oder blockieren Anfragen Jugendlicher, wie man magersüchtig wird. Unterschätzen darf man Magersucht (Anorexia nerviosa), an der rund eine von 14 weiblichen Teenagern leidet, nicht: Betroffene entwickeln infolge des extremen Gewichtsverlustes oft Osteoporose und Herzprobleme, mitunter endet die Krankheit tödlich.

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Artikel vom 21. August 2012

 

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